Zweifel an der Sanktionspolitik gegen Russland: Wo sind die Realos geblieben?

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Zweifel an der Sanktionspolitik gegen Russland: Wo sind die Realos geblieben?

Antje VOLLMER

14.07.2022

Berliner Zeitung

14-17 Minuten


Die Berliner Zeitung debattiert über die Folgen von Russlands Angriffskrieg in der Ukraine. Wie sollte Europa, wie sollte Deutschland weiter agieren? Wie kann man der Ukraine helfen? Welche Konsequenzen sind wir als Gesellschaft bereit zu tragen? In den nächsten Wochen erscheinen an dieser Stelle verschiedene Meinungsbeiträge aus unterschiedlichen Perspektiven. Der Gastbeitrag „Zweifel an der Sanktionspolitik gegen Russland“ wurde von der Gastautorin Antje Vollmer verfasst.

Vielleicht bin ich ja die Einzige, die allmählich beginnt, den immer gleichen Beteuerungen von der neuen Geschlossenheit und der nie da gewesenen Stärke des Westens nicht mehr zu glauben. Während sich die Gipfeltreffen von EU, G7, Nato, G20 regelrecht jagen und immer neue Posterbilder von schulterklopfenden, von ihrer Mission beflügelten Staatsmännern und -frauen täglich über alle Kanäle flimmern, kommt mir das Ganze allmählich so vor wie das Pfeifen im Walde.

Ich höre: Wir leben in einer „Zeitenwende“, die dieses Vorgehen alternativlos macht. Das sogenannte Neue an dieser Wende ist aber dem Begriff nach zu schillernd, als dass es einen eindeutigen Sinn ergeben würde. Es lohnt sich also, darüber nachzudenken. Zum Vergleich: 1990 gab es eine echte Zeitenwende, weil die bis dahin geltende Ordnung der Welt, die Teilung in zwei Blocksysteme, die sich mit gegenseitiger atomarer Bedrohung in Machtbalance hielten, auf erstaunlich gewaltfreie Weise aufgelöst wurde.

Heute wird behauptet, seitdem gäbe es eine neue „regelbasierte Ordnung der Welt“, die nur der Diktator im Kreml mit seinem ohne Zweifel völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zerstört habe. Weswegen eben alle aufrechten Demokratien der Welt nun fest zusammenhalten müssten, um diese Ordnung zu verteidigen gegen die am Horizont drohenden neuen Autokratien. So erheben sich aus der blutigen Tragödie eines Krieges die neue Daseinsberechtigung der Nato und der neue Führungsanspruch des Westens wie Phönix aus der Asche – sie erscheinen als die Essenz dieser Wende-Legende.

„Welchen Platz bietet das Nach-Kalte-Kriegs-Europa den Russen?“

Drei Gründe sprechen gegen diese These. Erstens ist der russische durch nichts zu rechtfertigende Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht der erste Krieg, der nach 1990 gegen die Regeln des Völkerrechts geführt wurde (Kosovo, Irak). Das macht die Sache keineswegs besser, aber sollte doch etwas die Rhetorik des Epochenbruchs bremsen.

Zweitens ist es gerade das größte Versäumnis der Jahre nach 1990, dass keine neue europäische Sicherheitsordnung formuliert wurde, die sowohl den neuen postsowjetischen Demokratien als auch dem damals noch demokratischen Russland einen angemessenen Platz in einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem vermittelt hätte. Es gab nie eine Antwort auf die durchaus berechtigten Fragen von Gorbatschow, Jelzin, Putin und Medewew: „Welchen Platz bietet das Nach-Kalte-Kriegs-Europa eigentlich den Russen in dieser Nachkriegswelt an?“

Europa hat nach 1990 keine haltbare Form gefunden, die den Namen Friedensordnung verdient hätte. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Ralf Mützenich hat deswegen zu Recht festgestellt: „Wir werden es einmal vor unseren Kindern zu verantworten haben, dass wir ihnen keine bessere Welt hinterlassen haben.“

Die große Auseinandersetzung mit China

Zum Dritten: Gerade weil die echte Zeitenwende von 1990 keine haltbare Friedensordnung hervorgebracht hat, markiert das Postulat einer heutigen Zeitenwende wohl eher die Rückkehr zum alten Elend der Blockkonfrontation und ihrer Logik der wechselseitigen gegenseitigen Bedrohung. Da sich aber nichts im Leben einfach nur wiederholt, erscheint diese neue mentale Aufrüstung noch gefährlicher – geht es doch diesmal nicht nur um die „größte Bedrohung der Nato durch Russland“ (Generalsekretär Stoltenberg), sondern um die ganz große zukünftige Auseinandersetzung mit China.

Die wundersame Auferstehung der Daseinsberechtigung der Nato als Sinn und Zweck der Zeitenwende ist also Teil einer Strategie, die erneut die Welt mit dem schärfsten aller Schwerter, mit dem der Ideologie, zerteilt.

Wir, die wir fassungslos und oft hilflos einer Kriegskatastrophe mit Tausenden von Opfern zusehen, die im Verlauf immer deutlicher zu einem klassischen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem Westen wird, werden aber stündlich ermahnt, nicht vom fahrenden Zug abzuspringen, uns nicht vom Kriegsherrn im Kreml aufspalten zu lassen – denn das Volk der Ukraine kämpfe schließlich für uns alle, für unsere Freiheit. „Sie sterben für Europa, sie haben verdient, den europäischen Traum mit uns zu leben“ (so Ursula von der Leyen, die sprachlich gern übergriffig wird).

Welche Dinge zur Verschärfung des Konflikts beigetragen haben

Der Charakter dieses Krieges als völkerrechtswidriger Angriffskrieg und seine mediale Bearbeitung suggerieren, dass wir, der Westen, nur Helfer, Retter und Unterstützer in einer gerechten Sache sind. So vernebelt sich, dass wir Partei sind, nicht nur mit unseren Sympathien für die angegriffene Nation. Wir haben eigene Interessen und Machtoptionen im Spiel. Wir werden gerade durch eine umfassende moralische Aufrüstung und Dauerbeschallung immer tiefer hineingezogen in die geopolitische Schlachtordnung, die in Zukunft offenbar ausgefochten werden soll: Freiheit gegen Tyrannei, Demokratie gegen Autokratie und Despotie, Gut gegen Böse, der Westen gegen Russland und China. (…)

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