Hat die Ukraine die Pflicht zu verhandeln?
Reinhard MERKEL
29/12/2022
Dieser Beitrag aus FAZ.NET stieß auf entschiedenen Widerspruch von Osteuropaexperten. KARENINA dokumentiert
Anmerkung: Einige scharfe Entgegnungen auf den Text von R. MERKEL finden sich im Anhang (StB)
Die Anfänge der Lehre vom gerechten Krieg reichen zurück in die vorsokratische Antike. Systematisch ausgearbeitet wurden sie erst von den scholastischen Theologen und den Juristen des kanonischen Rechts im späten Mittelalter. Die Gründerväter des neuzeitlichen Völkerrechts im 16. und 17. Jahrhundert nahmen die Entwürfe auf und entwickelten sie weiter: zur vernunftrechtlichen Ordnung einer europäischen Staatenwelt, die sich mit dem Westfälischen Frieden von 1648 neu zu formieren begann. Grundlage ihrer Rechtsbeziehungen wurden moderne Prinzipien der Staatlichkeit ihrer Subjekte: deren Souveränität, ihre Gleichheit und die Undurchdringlichkeit ihrer territorialen Grenzen wie ihrer inneren Angelegenheiten gegen Interventionen von außen.
Seither unterscheiden alle Theorien des gerechten Kriegs zwei normative Grundfragen: die nach dem Recht zum Krieg (ius ad bellum) und die nach dem Recht im Krieg, den zulässigen Formen militärischer Gewalt (ius in bello). Kant schärfte in seiner „Rechtslehre“ den Blick für die Notwendigkeit einer dritten Kategorie: für das Recht nach dem Krieg (ius post bellum), die Pflichten der Konfliktparteien nach dem Ende ihrer Kämpfe. Diese Dreiteilung der Frage nach der Gerechtigkeit von Kriegen spiegelt sich, wiewohl unvollständig, auch in der Entwicklung des Völkerrechts bis in die Gegenwart.
Wer könnte die Pflicht einfordern?
Erst in jüngster Vergangenheit erkannte man, dass die klassische Trias der Normen legitimer Kriegführung eine empfindliche Lücke aufwies. Darrell Moellendorf, Philosoph an der Universität Frankfurt, gab ihr einen sprechenden Titel, der sich durchsetzte: „ius ex bello“. Knapp und grob: Gibt es schon während des Gewaltgeschehens für alle Konfliktparteien rechtsprinzipielle Pflichten, sich um Wege ex bello zu bemühen, um ein Ende des Kriegs, und zwar selbst dann, wenn dies ihre militärischen oder politischen Ziele vereiteln würde? (…)