«Die Politik der USA war es immer, zu verhindern, dass Deutschland und Russland enger zusammenarbeiten»
Historische, politische und wirtschaftliche Hintergründe des Ukraine-Kriegs
Interview mit Jacques Baud,* Schweiz
Zeitgeschehen im Fokus: Herr Baud, Sie kennen die Region, in der im Moment Krieg herrscht. Welche Schlüsse haben Sie aus den letzten Tagen gezogen, und wie konnte es so weit kommen?
Jacques Baud: Ich kenne die Region, um die es jetzt geht, sehr gut. Ich war beim EDA [Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten] und in dessen Auftrag fünf Jahre abkommandiert zur Nato im Kampf gegen die Proliferation von Kleinwaffen. Ich habe Projekte in der Ukraine nach 2014 betreut. Das heisst, ich kenne Russland, auf Grund meiner ehemaligen nachrichtendienstlichen Tätigkeit, die Nato, die Ukraine und das dazugehörige Umfeld sehr gut. Ich spreche russisch und habe Zugang zu Dokumenten, die nur wenige Menschen im Westen anschauen.
Sie sind ein Kenner der Situation in und um die Ukraine. Ihre berufliche Tätigkeit brachte Sie in die aktuelle Krisenregion. Wie nehmen Sie das Geschehen wahr?
Es ist verrückt, man kann sagen, es herrscht eine regelrechte Hysterie. Was mir auffällt und was mich sehr stört, ist, dass niemand die Frage stellt, warum die Russen einmarschiert sind. Niemand wird einen Krieg befürworten, ich sicher auch nicht. Aber als ehemaliger Chef der «Friedenspolitik und Doktrin» des Uno-Departements für friedenserhaltende Operationen in New York während zwei Jahren stelle ich mir immer die Frage: Wie ist man zu diesem Punkt gekommen, Krieg zu führen?
Was war Ihre Aufgabe dort?
Es ging darum zu erforschen, wie es zu Kriegen kommt, welche Elemente zu Frieden führen, und was man tun kann, um Opfer zu vermeiden bzw. wie man einen Krieg verhindern kann. Wenn man nicht versteht, wie ein Krieg entsteht, dann kann man keine Lösung finden. Wir sind genau in dieser Situation. Jedes Land erlässt seine eigenen Sanktionen gegen Russ-land, und man weiss genau, das führt nirgends hin. Was mich dabei besonders schockiert hat, ist die Äusserung des Wirtschaftsministers in Frankreich, man wolle die Wirtschaft Russ-lands zerstören mit dem Ziel, die russische Bevölkerung leiden zu lassen. Das ist eine Aussage, die mich äusserst empört.
Russlands Ziel der Entmilitarisierung und Entnazifizierung
Wie beurteilen Sie den Angriff der Russen?
(…)
** Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler
Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des RuandaKrieges (UNHCR – Zaire/Kongo, 1995–96). Er arbeitete für das DPKO (Departement of Peacekeeping Operations) der Vereinten Nationen in New York (1997–99), gründete das Internationale Zentrum für Humanitäre Minenräumung in Genf (CIGHD) und das Informationsmanagementsystem für Minenräumung (IMSMA). Er trug zur Einführung des Konzepts der nachrichtendienstlichen Aufklärung in Uno-Friedenseinsätzen bei und leitete das erste integrierte UN Joint Mission Analysis Centre (JMAC) im Sudan (2005–06). Er war Leiter der Abteilung «Friedenspolitik und Doktrin» des UnoDepartements für friedenserhaltende Operationen in New York (2009-11) und der Uno-Expertengruppe für die Reform des Sicherheitssektors und die Rechtsstaatlichkeit, arbeitete in der NATO und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.
Quelle: www.zeitgeschehen-im-fokus.ch, Nr. 4/5 vom 15. März 2022.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.